Wenn der Paketbote klingelt [Klartext! #01]
Anlässlich des Tags der Arbeit am 1. Mai schreibt unser Vorsitzender Jan Scholte-Reh in unserem neuen Blog über Hubertus Heils Pläne, die Situation der 490.000 Beschäftigten in der Zustellerbranche zu verbessern, und warum die SPD trotz des Widerstands aus der Union auf Kurs bleiben sollte.
Wir kennen ihn alle: den Mal mehr, Mal weniger freundlichen, aber meist gehetzten Zusteller, der uns das heiß ersehnte Paket liefert. Noch neulich abends haben wir es bei einem großen Online-Händler bestellt, während wir auf der Couch Serien bei einem beliebten Streaming-Dienst guckten. Rund 3,6 Milliarden Pakete wurden 2018 an deutsche Haushalte ausgeliefert. Milliarden, nicht Millionen! Jetzt bin ich an dieser Stelle ehrlich: Ich gehöre auch zu denjenigen, die gerne bequem daheim bestellen. Eigentlich (!) soll man zwar beim Händler vor Ort kaufen, aber häufig habe ich im Alltag keine Zeit zum Shopping in der Einkaufsstraße. Und ja, einen Zusteller kenne ich sogar beim Vornamen.
„Mafiöse Strukturen“
Wenn der Bote dann klingelt und wir unser Paket endlich in den Händen halten, haben wir selten einen Blick für den Menschen, der vor uns steht oder für dessen Arbeitsbedingungen. Diese sind nämlich alles andere als rosig. Insgesamt hat der Beruf nicht das Zeug zum Traumjob. Und so geht es den meisten seiner 490.000 Kolleginnen und Kollegen in der Zustellbranche. Ein paar Zahlen: 70 Prozent sind Hilfskräfte in Teilzeit und als Minijobber; die übrigen 30 Prozent haben überhaupt eine Ausbildung. Die Löhne werden erheblich gedrückt und tatsächlich wird die Mehrheit unterhalb des Niedriglohnniveaus bezahlt. Oft wird nicht einmal der Mindestlohn eingehalten. Frank Bsirske, Chef von Ver.di sprach sogar offen von „mafiösen Strukturen“, wenn die Paketdienste über Subunternehmer Menschen aus osteuropäischen Staaten für Stundenlöhne von rund 5,00 Euro täglich bis zu 12 oder sogar 16 Stunden schuften lassen. Und da hat er Recht!
Die Techniker Krankenkasse hat sich statistisch mit der Gesundheit in der Branche beschäftigt und siehe da: im Schnitt sind die Boten und Zusteller 25,2 Tage jährlich krankgeschrieben – der Durchschnitt aller Berufstätigen liegt bei 15,2 Tagen. Das kommt nicht von ungefähr: Hoher Stresslevel und monotone Arbeiten (fahren, parken, schleppen, zustellen bis alle Pakete des Tages ausgeliefert sind) zermürben mental. Die körperlichen Anstrengungen tun ihr Übriges, denn die Leute bestellen schon längst nicht mehr nur Blurays, Bücher oder Dekozeugs und wohnen dazu noch im ersten Stockwerk oder höher. Das alles für einen miserablen Lohn bei 10, schlimmstenfalls 12 oder sogar 16 Stunden.
Auslieferer sind selber ausgeliefert
In alle dem nicht berücksichtigt sind jene scheinselbstständigen Boten, die mangels Arbeitnehmerstatus aus der Statistik fallen. Der Online-Handel boomt eben und das ist eine der Folgen. Übrigens: gerade im Vorweihnachtsgeschäft spitzt sich die Lage zu. Vorrübergehend werden dann „hire and fire“ weitere zig Tausende Zusteller kurzfristig eingestellt. SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil spricht von „massivem Missbrauch“, von „Schwarzgeldzahlungen und Sozialversicherungsbetrug durch sogenannte Subunternehmer-Konstruktion“. Gerade durch diese Konstruktionen können die arbeitsrechtlichen Bedingungen in dieser Grauzone ausgehebelt und umgangen werden. So sind die Auslieferer selber ausgeliefert.
Wie wir die Bedingungen für 490.000 Zulieferer verbessern können
Jetzt werden einige sagen, „Das ist ja alles schön und gut, wenn Hubertus Heil darüber spricht, aber warum macht die Politik dann nix dagegen statt nur zu labern?!“ Eben doch. Bundesarbeitsminister Heil unternimmt was dagegen und da geht’s nicht um eine Pflasterlösung, die nur das oberflächliche Wehwehchen versteckt. Er setzt direkt an der Wurzel an, nämlich bei den Auftragsgebern der Subunternehmen, und rückt damit den Online-Händlern zu Leibe.
Der Gesetzesentwurf mit dem etwas sperrigen Namen „zur Erstreckung der Nachunternehmerhaftung für Sozialabgaben auf die Kurier-, Express- und Paketbranche“ hat es in sich. Hubertus Heil will die auftragsgebenden Unternehmen, etwa im Online-Handel, in direkte Verantwortung nehmen, wenn Subunternehmer etwa die Sozialversicherungsbeiträge an die Sozialkassen nicht abführen. Hier sollen dann im Rückschluss die Unternehmen die Lücke schließen und die Verantwortung für die Sozialabgaben der Zusteller übernehmen. Die weisen nämlich alle Verantwortung bisher von sich. Hubertus Heil: „Es geht um Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt.“
Der zynische Abwehrmodus der anderen Seite
Prompt verfallen die Konservativen in ihren rituellen, reflexhaften Abwehrmodus. CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier allen voran: „Die Belebung des Wachstums und die Schaffung neuer Arbeitsplätze muss Vorrang haben vor dem Aufbau neuer Bürokratie“, sagt er. Mit anderen Worten: Dass die Konjunktur weiterhin läuft, ist wichtiger als die soziale Absicherung der 490.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und wichtiger als die Bekämpfung von Tricksereien, die unsere arbeits- und sozialrechtlichen Standards als soziale Marktwirtschaft untergraben. Was ein Wirtschaftsminister. Dabei haben wir mit dem gleichen Rezept bereits in der Fleischindustrie und im Bausektor gesehen, dass der angebliche bürokratische Mehraufwand zu erheblichen Verbesserungen führte. Sind der Bausektor und die Fleischindustrie kollabiert? Sind die Preise explodiert? In keinem Wirtschaftszweig ist es derzeit schwieriger Leute zu finden als in der Baubranche. Und das Fleisch ist immer noch Billigware – „leider“ muss man sagen, aber das ist Thema für ein anderes Mal. Jedenfalls sind Heils Pläne sozusagen „water proofed“.
Wenn es jedoch nach Altmaier und der CDU/CSU ginge, dann gäbe es niemals den richtigen Moment für gerechte Arbeitsbedingungen und bessere Sozialstandards. Boomt die Wirtschaft, wie in den letzten Jahren, dann würde in der konservativen Logik jedes Mehr an Standards nur die Konjunktur abwürgen. Wir erinnern uns, wie verkrampft die Unionsparteien die Einführung des Mindestlohns bekämpften, obwohl das Land kontinuierlich Wirtschaftswachstum verzeichnete. Die Steuereinnahmen sprudelten. Stottert aber der volksökonomische Motor, dann wird die Mär von der Mehrbelastung der Arbeitgeber und Selbstständigen nur umso lauter erzählt. Hier zeigt sich also vortrefflich ein grundlegender Unterschied zwischen CDU/CSU und SPD. Die CDU/CSU macht sich Sorgen um die wirtschaftliche Konjunktur und erklärt, man könne sich gute Arbeit für die 490.000 betroffenen Menschen nicht erlauben. Wie zynisch für eine „christliche“ Partei. Die SPD hingegen stellt den Menschen in den Mittelpunkt.
Kontur und Kontinuität für mehr Vertrauen
Diese Woche erinnern wir mit dem 1. Mai wieder an den langwierigen Arbeitskampf vieler Generationen. Auf Kundgebungen fordern Gewerkschaften, Politiker und Sozialverbände bessere Arbeitsbedingungen und mehr soziale Gerechtigkeit. Dazu gehören eben auch jene Schweinereien im Niedriglohnsektor, wie etwa in der Zustellbranche. Sie sind offene Wunden in unserer sonst sozialen Marktwirtschaft.
Und ja, es gibt sie noch, die Menschen, die Zukunfts- und Existenzängste haben. Sie sind auf die Hilfe einer Sozialdemokratie angewiesen; eine Sozialdemokratie, die für die Belange eben dieser Menschen kämpft und sich kümmert. „Wir lassen niemanden im Stich, niemanden im Regen stehen, der sich nicht selber helfen kann“, ist eines der zentralen, sozialdemokratischen Versprechen.
Hubertus Heil und die Sozialdemokraten in Berlin sollten jetzt unbedingt auf Kurs bleiben, sollten ihre Botschaft wiederholen und die Union offen herausfordern. Sie müssen Kontur und Kontinuität zeigen. Was?! Das könnte Krach in der sowieso ungeliebten Koalition bedeuten? Tja, das müssen wir wohl riskieren. Der Lohn dafür wird aber neues Vertrauen sein, wenn wir uns glaubhaft für die einsetzen, die am meisten auf uns angewiesen sind. In Sachen Vertrauen haben wir nämlich noch eine ganze Menge zurückzugewinnen. Am Ende des Tages muss die Botschaft klar sein: gute Arbeit und soziale Absicherung ist keine Frage der Konjunktur; sie müssen viel mehr selbstverständlich sein.